Borchert - Soundtrack
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LESEPROBE

Aus dem Buch


"SOUNDTRACK - ERZÄHLUNG EINES PROVINZMUCKERS"


von
Dietmar Borchert





„Wenn einer, der mit Mühe kaum gekrochen ist auf einen Baum
schon meint, dass er ein Vogel wär'
so irrt sich der.“
(Wilhelm Busch)


Textauszug aus dem Kapitel
Just A Song Before I Go


Wir alle waren Musiker, wann immer wir vor einem Publikum standen und unser Bestes gaben, oder wenn wir vorher in unseren Sessions viel Aufwand betrieben, unsere Songs „amtlich“ hinzukriegen. Dabei spielte es keine Rolle, dass uns niemand auf das, was wir da taten, akademisch oder sonstwie vorbereitet hatte, oder ob man uns nach musiktheoretischen Gesichtspunkten beurteilte. Wir standen auf den Brettern und machten Musik, weil wir einem inneren Bedürfnis folgten, Spaß hatten, uns von Rampenlicht und Applaus in unserer Eitelkeit gekitzelt fühlten, uns den Kick holten, für die Minuten oder Stunden, die es dauerte.

Musiker spielen nämlich nicht nur für ihr Publikum. Sie spielen auch für sich selbst. Wer genau hinsieht, erkennt, dass Manche da auf der Bühne abtauchen und eins werden mit dem, was sie da treiben. Ich war Gitarrist, wenn ich mich nach den langen, mit Freuden oder Mühsal durchlebten Proben auf die Bühne wagte und vortrug, was ich in ehrlicher Arbeit gelernt hatte. Ich konnte, so gut es meine Fähigkeiten zuließen, eine Gitarre „bewegen“, wenn auch immer im Bewusstsein, dass Millionen andere es besser konnten, als mir selbst je möglich war. In diesen Zusammenhang passt ein Wort von Lindsay Buckingham, der in einem Interview seine Schritte als musikalischer Autodidakt beschrieb, ohne Kenntnisse von Grundlagen oder Musiktheorie. Nachdem er lange genug hingehört hatte, fühlte er sich per Gitarre und Banjo in die Rock- und Folkmusik hinein und entwickelte seinen ganz eigenen, individuellen Stil. In sympathischer Bescheidenheit zieht er Bilanz: „I consider myself to be a refined primitive...“. Das gilt auch für mich, ein verfeinerter Unausgebildeter. Und ich war, wie alle anderen neben und mit mir, Sänger, mit Leidenschaft und nach bestem Wissen und Gewissen. Denn darauf kommt es an, in der so genannten E-Musik wie hier bei uns in der U-Musik. Werde so gut, wie du kannst und verliere dabei nicht die Anderen aus den Augen. Finde deinen Stil, nicht, um dich von den Anderen zu unterscheiden, sondern um du selbst zu sein. Singen ist Singen, Spielen ist Spielen.

Hermann Hesse... so einer vermag in einem Absatz auszudrücken, was ich ein Leben lang gefühlt, aber nie hätte in Worte fassen können:
"Ich mochte lange Zeit auf fremden Wassern treiben, kein Notenheft und kein Instrument anrühren, eine Melodie lag mir doch zu jeder Stunde im Blut und auf den Lippen, ein Takt und Rhythmus im Atemholen und Leben. So begierig ich auf manchen anderen Wegen nach Erlösen, nach Vergessen und Befreiung suchte, so sehr ich nach Gott, nach Erkenntnis und Frieden durstete, gefunden habe ich das alles immer nur in der Musik. Es brauchte nicht Beethoven oder Bach zu sein: dass überhaupt Musik in der Welt ist, dass ein Mensch zuzeiten bis ins Herz von Takten bewegt und von Harmonien durchflutet werden kann, das hat für mich immer wieder einen tiefen Trost und eine Rechtfertigung alles Lebens bedeutet. O Musik! Eine Melodie fällt dir ein, du singst sie ohne Stimme, nur innerlich, durchtränkst dein Wesen mit ihr, sie nimmt von allen deinen Kräften und Bewegungen Besitz – und für die Augenblicke, die sie in dir lebt, löscht sie alles Zufällige, Böse, Rohe, Traurige in dir aus, läßt die Welt mitklingen, macht das Schwere leicht und das Starre beflügelt! Das alles kann die Melodie eines Volksliedes tun! Und erst die Harmonie! Schon jeder wohllautende Zusammenklang rein gestimmter Töne, etwa in einem Geläut, sättigt das Gemüt mit Anmut und Genuß und steigert sich mit jedem hinzuklingenden Ton und kann zuweilen das Herz entzünden und vor Wonne zittern machen, wie keine andere Wollust es vermag."
(Aus: Hermann Hesse, Gertrud).

„Volkslied“. Was wir sangen und spielten, war Volksmusik, nämlich Musik, die man überall im Alltag, täglich aus dem Radio oder als Fahrstuhlberieselung hören kann. Es war Musik, häufig recht einfach und wie mit heißer Nadel gestrickt, seicht oder mit Tiefgang und Hintersinn, gemacht von Leuten wie du und ich, die sangen und spielten, was ihnen eingefallen war und wie sie es am besten konnten. Darunter wahre Meisterwerke, die sicher auch Bachs oder Beethovens Wohlwollen gefunden hätten, aber auch viel Unsägliches, das zu hören mir körperliches Unwohlsein bereitet. Aber egal – Musik von Unseresgleichen für uns, die Leute auf der Straße, geschrieben und dargeboten. Also: fürs Volk. Die Shitparade der Volksmusik (das meine ich so, intolerant wie ich bin gegenüber akustischer Körperverletzung) oder ähnliche TV-Sendungen, die es zu Hauf im Angebot gibt, zeigt für mich das unterste Level dessen, was ein deutschsprachiger Geist auf diesem Sektor abzusondern fähig ist. Aber das ist nur mein Geschmack und nicht der der Mehrheit, denn auch diese Musik wird konsumiert und ernährt ihren Mann und ihre Frau. Auch das ist Volksmusik. Die Musik, die ich und Meinesgleichen machten und oftmals regelrecht „zelebrierten, hatte sicher zumindest in Teilen einen etwas höheren Anspruch. Sie ist über die Jahrzehnte komplexer und vielschichtiger geworden, und ihr Publikum ist mitgewachsen. Welch ein Unterschied, zum Beispiel, zwischen den Rock ’n’ Roll-Nummern der Fünfziger und jenen ihrer „legitimen“ Nachfolger, der Beatles und zahlloser anderer Bands dieser Ära. Aber vieles davon war und bleibt Musik für den Alltag und die Massen, also fürs Volk, und Kult aus Sicht der Fans, die sich durch die Musik, die sie sowohl konsumierten als gleichzeitig auch definierten.

Rockmusik... Sie hat so viele Stilrichtungen entwickelt, dass mir im Einzelfall eine Definition schwer fiele. Ich könnte noch nicht mal genau sagen, wo zeitlich ihr Anfang liegt. Muss ich auch nicht, weil jeder weiß, wovon die Rede ist. Schon heute liegt auf der Hand, dass sie sich den Status „immaterielles Weltkulturerbe“ erlangt hat. Sie war das Werkzeug, mit dem sich die Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg vom „Muff der tausend Jahre“ der autoritär geprägten Gesellschaften befreien konnten. Ihr schneller Beat wies uns die Richtung: nach vorn, immer nach vorn, zu neuen Ideen, freier Persönlichkeit und Entfaltung, heraus aus den überkommenen Konventionen, in Richtung Frieden und raus aus den Korsetts falsch verstandener Religiosität. Ihr treibendes Tempo ließ uns die länger wachsenden Haare im frischen Fahrtwind durchlüften. Die Impulse der Rockmusik wurden von unserer Generation mehr oder weniger bewusst so aufgenommen, sie lösten mit ihrem herben Charme alte Verkrustungen auf und drangen in viele andere Musikformen ein und veränderten sie. Das gilt nicht nur für die westliche Welt. Rock-Einflüsse hört man heute auch in der indischen und chinesischen Pop-Musik. Weltkulturerbe. Musik von „Laien“ für Gleichgesinnte. Jeder von uns kann eine Menge Namen von Textern und Songschreibern herunterbeten, die ohne irgendeine Schulung sich einfach hinsetzten und Texte von bleibender Bedeutung und zum Teil geniale Musik schrieben. Sie fiel ihnen einfach so ein, Intuition ohne jahrelanges Kompositionsstudium. Die trugen das dann vor, Bob Dylan zum Beispiel mit seiner nöligen Allerweltsstimme, die aber richtungweisendeTexte intonierte. Lennon/McCartney gehören ebenso zu diesem Kreis, gleich dahinter ihr Kollege George Harrison, der als Komponist lange in ihrem Schatten stand und dann doch mit unvergesslichen, zeitlosen Werken glänzte. Nicht zu vergessen Ian Anderson, diesem Autodidakten aus der weit oben stehenden Kategorie „schier unglaublich“, der nachweislich ohne musikpädagogisch angebrütet worden zu sein mit Jethro Tull allerfeinste Crossover-Rockmusik schuf, die zumindest hier bei uns bis heute leider immer noch unterbewertet ist. Ich bewunderte besonders sein prophetisch-dichterisch-musikalisch-feinsinniges Wond’ring Again, eine makellose Komposition, in der Text und Musik sich irgendwie zu widersprechen scheinen und doch nicht anders sein können. Und welchen Zugang er, der akademisch Unbeleckte, zum Beispiel zu Gabriel Faurés Pavane Op. 50 gefunden und diesen Tanz in die Sprache des Progressive Rock umgestaltet hat... mir blieb bei solchen Werken immer die Spucke weg, sprachlos und manchmal feuchten Auges... Negermusik... Mein Gott, was die, die solche Meisterwerke so abstempelten, alles verpasst haben.

Andererseits kann musiktheoretische Ausbildung der Rockmusik förderlich sein, siehe Leute wie Jon Lord (Deep Purple), Gary Brooker (Procol Harum) oder Freddie Mercury und überhaupt Queen. In die Aufzählung gehören auch noch unbedingt Björn Ulvaeus und Benny Andersson von Abba, und damit ist sie noch lange nicht vollständig. Unsere Rockmusik wurzelt im einfachen, musikalisch eben „ungebildeten“ Volk und entspringt aus seinem Liedgut. Ihren Reiz machten immer die von keinem Gesangscoach behelligten, ungeschliffenen Stimmen aus, die aus den individuellen Talenten ihrer Besitzer ihre Einzigartigkeit und ihr Drama bezogen. Freddie Mercury mit seinem explosiven, ausdrucksstarken Gesang, Peter Gabriels spröde, irgendwie verletzlich wirkende, betörende Stimme. Was wäre aus Rod Stewart geworden, wenn man den ins muffige Schulzimmer eines Gesangslehrers gesperrt hätte? Oder Joe Cocker? Jedenfalls keine Plattenmillionäre. Jeder könnte jetzt eine unendlich lange Liste markanter Gesangsstimmen voller eigenartigem Charme anfügen, das reine name dropping, komplett unnötig. Jedem fällt da gleich eine ganze Reihe ein. Während der Blütezeit von Chardonnay, der ich noch nachtrauere, kamen wir in einer Probenpause drauf zu sprechen, dass unsere Versuche, uns unseren Vorbildern möglichst zu nähern, beinah vermessen waren; Quadratur des Kreises. Im Unterschied zu uns, berufstätig und Freizeitmusiker – Lainel nannte uns immer sehr treffend „Provinzmucker“ – waren unsere Vorbilder allesamt Fulltime-Musiker, die den lieben langen Tag nix anderes machten als ihre Musik. Die hatten alle Zeit der Welt, zu lernen und zu feilen und der Perfektion in ihrem Handwerk sehr nahe zu kommen. Wir dagegen mussten mit wöchentlich ein paar Stunden Üben auskommen. So gesehen sind viele der Amateure um mich rum verdammt weit vorgestoßen bei ihren Versuchen, den Vorbildern so nahe wie möglich zu kommen. Im Vergleich zu denen hielt ich mich für einen Grobmotoriker. Die Frage nach der Güte des eigenen musikalischen Tuns hat mich lange umgetrieben, wohl ausgehend von der brutalen, kategorischen Ablehnung meines Vaters. Für den war das, was er aus meinem Hamburger Zimmer da oben unterm Dach von mir hörte, schlicht „Pinkelmusik“. Und da Vater trotz allem immer noch eine Autorität blieb, weil er eben Vater war und ich wusste, dass er mehr wusste als ich, hat sich sein krasses Urteil lange Zeit im Hinterkopf eingenistet; es provozierte immer wieder mal diese für mich wirklich existentiellen Fragen. Außerdem kamen quasi zeitgleich zu den ablehnenden Äußerungen über meine mit Leidenschaft und Inbrunst betriebene Musik Beethoven, Tschaikowsky und Gershwin aus der heimischen Stereo-Anlage – von mir verstanden als: „Das, du Sünder, ist Musik, was du machst ist Kacke!“ Erst in seinem hohen Alter, er ging schon auf die 80 zu, ließ er sich ein einziges Mal von Rockmusik beeindrucken. Das war, als ich ihm den Albatros von Karat vorspielte. Er hatte in jungen Jahren ja zweimal Cap Hoorn umsegelt. Die Seefahrer seiner Zeit hatten ein besonderes Verhältnis zu diesen großen Vögeln; sie vermuteten in ihnen die Seelen ertrunkener Seeleute. Ich spielte ihm das Lied vor, und siehe: sowohl der Text als auch die geradezu dramatische Musik wirkten auf ihn. Sturm und hoher Seegang, Hochseedrama, herrlich von Karat inszeniert. „Spiel das nochmal!“ Wir hörten zusammen den Text raus und schickten ihn unter Angabe der Credits an den „Albatros“, die Vierteljahres-Zeitschrift der internationalen Vereinigung der Cap Horniers, deren Mitglied er war. Vater wollte, dass die letzten Überlebenden aus der WindjammerÄra diesen Text lasen. Pinkelmusik... Zum Glück ließ ich mich durch ihn nicht von meinem Tun abbringen, machte es eben fortan so, dass meine „Gegner“ nix mitbekamen von dem, was mich (und ich) bewegte, ich trieb es im Geheimen und liebte umso stärker meine durch die krasse Ablehnung irgendwie besudelte Musik. Manche finden ja auch Sex schmutzig – wohl aus ähnlichen Gründen. Er wurde jahrhundertelang von den Kirchen verteufelt und als sündhaft bezeichnet. Kein Wunder, was dabei rausgekommen ist, bis heute. Gesellschaftsfähig wurde ich eben in einer anderen Umgebung – und fand mich fast immer in guter Gesellschaft, siehe oben. Und ich erlebte allein durchs Musikmachen mehr Freude und Genugtuung, als mein Vater wohl in seinem gesamten Leben erfahren hat. Loriots Spruch in abgewandelter Form barg und birgt immer noch viel Wahrheit: Ein Leben ohne Gitarre ist denkbar, aber sinnlos.

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