„Mittlerweile ist so ziemlich alles gesagt worden
wie toll wir sind und wie entsetzlich wir sind.“
(George Harrison)
„Die Hälfte dessen, was ich sage, ist ohne Bedeutung.
Aber ich sage es, weil ich dich erreichen möchte.“
(John Lennon, aus seinem Song „Julia“)
„YOU SAY YOU WANT A REVOLUTION“
DIE BEATLES IM TURBULENTEN JAHR 1968
„Guguu-gutschuub“, schreit er den Polizisten entgegen. Und, im nervenden Halbton-Intervall der Polizeisirene: „Mister city pliceman sitting pretty little pliceman in a row!“. Keine Ahnung, was das zu bedeuten hat es klingt aber gut, wie er das über den umgeworfenen Bauwagen zu den Uniformierten hinüberplärrt. Und dann wieder: „Guguu-gutschuub!“. Schon grenzdebil oder nur zu viel gehascht, oder was? „See how they run like pigs from a gun see how they cry, I am laughing hahaha, hohoho“. Unbedingte Texttreue ist hier nicht gefragt, wenn Charly, der Lauteste und Verrückteste von uns, seine Demo-Sprüche skandiert. Warum er ausgerechnet Textbrocken aus John Lennons „I Am The Walrus“ gröhlt, weiß er wohl selbst nicht so genau. Obwohl dieser geniale Walross-Song, der erst vor ein paar Wochen, im November ’67, als Rückseite der Single „Hello, Goodbye“ auf den Markt gekommen ist, hat es uns allen angetan. Jeder kann ein paar Textstellen auswendig. Und irgendwie passt die Absurdität des „Eggman“ und des „Walrus“ zu dieser Demo mit Happening-Charakter vor der Frankfurter Societäts-Druckerei, deren Ein- und Ausfahrt mit allerlei Sperrmüll-Gerümpel blockiert ist. Zusätzlich wird noch ein Bauwagen von einer nahen Baustelle herbeigeschafft und unter Gejohle vor der Ausfahrt umgekippt. Wir sind daran nicht so ganz unbeteiligt. Mit dieser Aktion soll die Auslieferung der BILD-Zeitung verhindert werden. Die Hetze der Springer-Presse, davon sind wir alle überzeugt, war mitverantwortlich für die Fast-Ermordung von Rudi Dutschke am Tag zuvor. Die Wasserwerfer-Attacken haben wir noch heroisch überstanden trockene Klamotten lagen im Auto bereit. Doch dann trauen wir unseren Augen nicht. Berittene Polizisten galoppieren auf eine Sitzblockade von Demonstranten zu und reiten direkt in die Menge hinein. Alle schreien und stürmen in Panik auseinander. Das hat mit Happening nichts mehr zu tun. Unsere Karriere als revoluzzende Freizeit-Straßenkämpfer ist damit beendet. Die geballte Faust bleibt künftig in der Hosentasche stecken.
Und was bleibt an akustischer Erinnerung auf dem Endlosband im Kopf gespeichert, aus jenen Demo-Tagen Ostern 1968? Merkwürdigerweise kein einziger Satz der damals bewunderten Studentenführer nur das Rückkopplungsfiepen ihrer Megaphone. Und das „Goo Goo Gojoob“ und andere Song-Fragmente aus diesem irrwitzigen und grandiosen Klangwunderwerk von Lennon & Co, „I Am The Walrus“. Dieser und andere Songs aus der „Magical Mystery Tour“, dem überwiegend gelungenen Soundtrack aus dem überwiegend misslungenen, gleichnamigen TV-Film der Beatles, wirken noch lange in das Jahr 1968 hinein. Erst im November sollen die Beatles ihr künstlerisches Resümee des Jahres ’68 auf ihrer ersten Doppel-LP veröffentlichen. Es wird ihr letztes Meilenstein-Album: das mit dem weißen Cover und dem schlichten Titel „The Beatles“, allgemein bekannt als das Weiße Album.
BORN TO BE WILD AND FREE
Umsturz und freie Liebe, Drogenexzesse und der Traum vom richtigen Leben abseits vom falschen der anderen. Krawall und Meditation, explodierende Kreativität und ein Lebensgefühl, das nichts weniger verheißt als die Überwindung aller Grenzen, und dass alles, wirklich alles, möglich ist, wenn man es nur will. Vieles von all dem klingt an im Weißen Album, dem wichtigsten, weil umfassendsten und vielgestaltigsten, auch widersprüchlichsten popmusikalischen Zeitdokument des Jahres 1968.
Andere mögen radikaler, pointierter, konsequenter das Zeitgefühl getroffen haben: Steppenwolf im Mai 1968 mit „Born To Be Wild“, Jimi Hendrix im Juli mit „All Along The Watchtower“, die Stones im August mit „Street Fighting Man“. Aber die Beatles bringen auf einer einzigen Single Ende August den antagonistischen Zeitgeist in seinen bürgerlich-beharrenden wie jugendlichrevoltierenden Aspekten zum Ausdruck: das private Glücksversprechen („Then you can start to make it better“, in „Hey Jude“) und das Suchen nach dem richtigen Weg zur gesellschaftlichen Veränderung („We all want to change the world“, in „Revolution“).
Doch zu Beginn des Jahres 1968 scheinen die Beatles in einer Krise zu stecken. Zum ersten Mal in ihrer Karriere befinden sie sich künstlerisch in der Defensive. Weihnachten 1967 erleben die erfolgsverwöhnten Fab Four eine schöne Bescherung. Ihr Film Magical Mystery Tour, eine Art „Underground-Roadmovie in bester Hippie-Manier“ (Kember 2007) entpuppt sich als Desaster und fällt bei den Kritikern wie beim Publikum gnadenlos durch. Daran können auch überragende Film-Songs wie „I Am The Walrus“ und „The Fool On The Hill“ nichts ändern. Wohlmeinende Anhänger attestieren dem zusammengestückelt wirkenden Film den schrägen Charme eines abgedrehten Dada-Gaga-Nonsens-Heimvideos, das jeder gerne mal gedreht hätte. Die magische Mysterienreise der Beatles, die als flippiger Fernsehfilm mit wirrer Handlung am zweiten Weihnachtsfeiertag von der BBC ausgestrahlt wird und zuvor schon als durchaus hörenswerte Soundtrack-EP am 8. Dezember 1967 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist, markiert mit dem wilden Irrsinn seiner drogen-induzierten Ideenvielfalt und dem sympathischchaotischen Gemeinschaftserlebnis einer „abgefahrenen“ Busreise im Grunde den Übergang vom „Summer Of Love“ anno ’67 zum kreativ-explodierenden Jahr ’68, das so viel Energie in der Jugendbewegung entwickeln soll wie nie zuvor Energie, die auch die Wirkung eines Sprengsatzes haben könnte. „Love and Peace“ scheint fast schon vergessen, wird jedenfalls massiv überlagert und gefährdet.
GEWALT WELTWEIT UND WAS MACHEN DIE BEATLES?
Das Jahr ’68 ist alles andere als friedlich, ist im Gegenteil gewalttätig. Es soll das grausamste Jahr der Sixties werden: Am 16. März verüben US-GIs ein Massaker im vietnamesischen Dorf My Lai und töten über 500 Dorfbewohner. (Zu diesem Zeitpunkt sind die Beatles, außer Ringo, noch im indischen Rishikesh, um im Ashram des Gurus Maharishi Mahesh Yogi an einem Meditationskurs teilzunehmen. Ringo Starr kehrt bereits am 1. März nach England zurück). Am 4. April wird der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King in Memphis ermordet. (Die Beatles-Single „Lady Madonna“ erreicht am 4. April Goldstatus. John Lennon und George Harrison weilen noch in Rishikesh. Paul McCartney ist bereits am 26. März nach London zurückgeflogen). Am 11. April wird Rudi Dutschke in Berlin niedergeschossen. (John Lennon und George Harrison, enttäuscht vom Maharishi, verlassen überstürzt Rishikesh am 12. April). Am 3. Juni wird Andy Warhol in seiner Factory angeschossen. (Die Beatles sind im Studio mit der Aufnahme des Lennon-Songs „Revolution 1“ beschäftigt). Am 5. Juni fällt Robert Kennedy in Los Angeles einem Attentat zum Opfer. (Ringo Starr und Paul McCartney beginnen mit den Studioaufnahmen zu Ringos Song „Don’t Pass Me By“, die am 6. Juni fortgesetzt werden. John Lennon arbeitet im Nachbarstudio an seiner Klangcollage „Revolution 9“).
Seit Anfang 1968 regt sich in vielen Ländern Widerstand. Überall gehen Studenten und Oppositionelle auf die Straße. Im März: Anti-Vietnamkriegs-Proteste in London und Berlin, antikommunistische Ausschreitungen in Warschau und Prag. Im April: Straßenschlachten in Frankfurt und Berlin nach dem Dutschke-Attentat. Im Mai: Studentenproteste, Barrikadenkämpfe und Streiks in Frankreich. Im Juni: Chaos und Zerrissenheit in der US-amerikanischen Gesellschaft nach der Ermordung von Robert Kennedy. Die Spannung, die entsteht aus der tiefer werdenden Kluft zwischen der Gegenkultur mit ihrer Aufbruchstimmung und der sich dagegen stemmenden Wucht eines reaktionären Konservatismus, nimmt bedrohliche Züge an. Im Juli gehen alle erst mal in Urlaub, außer Papst Paul VI., dessen Enzyklika „Humanae Vitae“ jedem Katholiken die Antibaby-Pille verbietet. Im August geht es weiter: Krawalle in Los Angeles, die Niederschlagung des Prager Frühlings durch russische Panzer und Anti-Vietnamkriegs-Proteste in Chicago mit Hunderten von Verletzten. Im Oktober: „Attacke auf Tokio“ radikale japanische Studenten besetzen das Parlament, Polizeistationen und die US-Botschaft, was zu drei Tagen Chaos in Tokio führt. Und: ein Massaker an Demonstranten in Mexiko am 2. Oktober, 10 Tage vor Beginn der olympischen Sommerspiele in Mexiko City. Die Armee erstickt die Proteste im Keim, 337 Menschen sterben. Im Zeitraum dieser umwälzenden Ereignisse, genau vom 30. Mai bis zum 16. Oktober, arbeiten die Beatles an den Songs ihres Doppelalbums „The Beatles“, das als das Weiße Album in die Annalen der Popgeschichte eingehen soll. Bekommen die Fab Four in ihrer schallisolierten Studiowelt überhaupt mit, was draußen passiert? Genau an dem Tag, als die Sowjet-Panzer über das historische Pflaster von Prag rollen und den Prager Frühling brutal beenden, nehmen die Beatles im Abbey Road Studio 2 ihren witzig gemeinten Rocker „Back In The USSR“ auf. Und just an diesem Tag klingt die Refrainzeile „Ihr wisst gar nicht, wie gut ihr’s habt in der UdSSR“ eher makaber als lustig. Als textlich direkte Reflexionen der politisch umstürzlerischen und gesellschaftskritischen Entwicklungen in der Welt des Jahres ’68 drängen sich nur John Lennons „Revolution“ (in den drei verschiedenen Fassungen) und George Harrisons „Piggies“ auf.
Doch das Lebensgefühl dieser ereignisreichen, turbulenten und schillernden Monate knistert in jedem Sound-Partikel, vibriert im Stakkato der Beats und Bekenntnisse, schwingt mit im Subtext der musikalischen Gestaltung, pulsiert in der Unterströmung der Ideenflut und schläft, erwacht in der Essenz so mancher Songzeile dieses phänomenalen Albums. Phänomenal? Ja, zweifellos ist das Weiße Album ein Phänomen, was die kaleidoskopartige Abbildung und Spiegelung dessen angeht, was für die Pop- und Jugendkultur jener Tage bezeichnend ist: der kreative Überschwang, die Rigorosität künstlerischer und gesellschaftskritischer Statements und das Gemeinschaftserlebnis des Zusammen-sind-wir-stark-und-können-alles-Erreichen bei gleichzeitiger Individuierung und Ego-Zentrierung der einzelnen Beteiligten, die auch alleine etwas auf die Beine stellen können, wenn sie nur wollen.
Auch unser Freund Charly ist hochzufrieden mit dem Weißen Album. Der Kauf hat sich für ihn schon wegen einer einzigen Zeile gelohnt, die er zu jeder passenden und vor allem unpassenden Gelegenheit nach Herzens- oder anderer Lust plärren kann: „Why don’t we d’do it in the road!“
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