Der Blues ist persönlich, aber nicht privat!
„Blues ist eine so extrem variable und flexible Ausdrucksweise, dass sie fast jedem Versuch widerspricht, ihn mit einer präzisen Definition festzuhalten.“ (David Evans)
Definitionen was Blues ist, gibt es viele, die zudem sehr unterschiedlich sind. Die Perspektiven auf den Blues sind so vielfältig wie der Blues selbst. Sie sind zum einen von den individuellen Einschätzungen nicht Wertungen der aktiven und historischen BluesmusikerInnen abhängig. Zum anderen spielt der jeweilige historische Kontext, vor allem in der Zeit der Rassentrennung, eine große Rolle bei der Entwicklung und Verbreitung des Blues, wie auch der Wandel des Geschmacks der jeweils interessierten Zuhörerschaft. Zudem bewerten ab den 1920er Jahren die Schallplattenfirmen den Blues und seine Ausprägungen, deren Verantwortliche für die Kontrolle und die Zensur des zur Veröffentlichung vorgesehenen Materials zuständig sind. Deren Kriterien hängen nicht von der Liebe zum Blues, sondern vom Verkaufserfolg der BlueskünstlerInnen ab. Nur selten gelingt es den ganz kleinen Firmen wie Trumpet Records der Musikproduzentin und Bluesliebhaberin Lillian McMurry, einen bis heute beliebten Welthit wie „Dust my Broom“ (1952), von Bluesman Elmore James eingespielt, zu landen. Weil der Blues als originäre Volksmusik mit vielen regionalen Stilen in seiner Vielfalt nicht über die Schallplatte verbreitet wird, bestimmt zum großen Teil die Schallplattenindustrie, was Blues ist.
Die sich daran anpassenden TextschreiberInnen, KomponistInnen und die MusikerInnen definieren zwar mit, was musikalisch unter Blues zu verstehen ist, aber die kreative Kraft der über gesellschaftliche Tabus hinwegdonnernden Wortgewalt des ursprünglichen Blues wird langsam ausgebremst. Auch die diversen Medien, wie Radio, Zeitungen, Bluesveranstalter und Bluesmagazine und später das Fernsehen bestimmen, was Blues ist, wer dazu gehört und wer nicht und darüber hinaus, ob der Blues in seiner Gesamtheit oder nur bestimmte Teile davon den Weg in die Öffentlichkeit finden.
Besonders die Songs der frühen Bluesmusikerinnen spiegeln die Auseinandersetzung der afroamerikanischen Community mit den schwierigen Alltagsproblemen der Frauen und Männer wieder. Einerseits erklingen die Bluessongs in Text und Gesangsstil oft traurig, resigniert, verärgert oder wütend. Andererseits kennzeichnen optimistische, glückliche bis hin zu frechen Momenten purer Lebensfreude sowie Darstellungen gelingenden Lebens den Blues. Manchmal treffen auch mehrere Stimmungslagen in einem Song aufeinander. Das betrifft nicht nur die Textinhalte, sondern auch die jeweiligen darin enthaltenen Gefühlsebenen, die direkt im Gesanglichen oder über ein Instrument vermittelt ausgedrückt werden können. David Evans merkt dazu in seinem Buch „Big Road Blues“ an, dass die Songs dadurch widersprüchlich und inkonsistent erscheinen. Aber so sei die Natur des Blues, wie sie von den MusikerInnen gesehen werde. Und weiter: „Die Bluesform eignet sich besonders gut, um universelle Tatsachen des Lebens wie Widerspruch, Konflikt und Spannung auszudrücken. Infolgedessen hat sich diese Liedform auf der ganzen Welt verbreitet und wurde von den meisten Menschen, die mit ihr in Kontakt gekommen sind, genossen. (…) Der Blues enthält viel, was für die schwarze Kultur in den Vereinigten Staaten von Bedeutung ist, aber im Grunde genommen befasst sich der Blues mit universellen Themen. ‚Worry‘ (Sorge; H.M.) ist nicht das ausschließliche Merkmal einer Kultur. Es ist die Universalität, die die Grundlage für die weltweite Anziehungskraft des Blues war, und ich glaube, seine Anziehungskraft auch für die meisten schwarzen Amerikaner.“ Allerdings verliert der Blues seine ehemals starke Anziehungskraft für die AfroamerikanerInnen in dem Moment, als erste Anzeichen für eine Verbesserung des Lebens durch den sozialen Wandel vor allem nach dem II. Weltkrieg zu erkennen sind. Der Blues tritt in den 1930er und 1940er Jahren in andere musikalische Phasen mit Boogie Woogie, Jump Blues und R&B und in gewissem Maße auch im Swing und dem Soul ein, wie er auch in die Geschichte des zunächst noch afroamerikanischen frühen Rock’n’Roll eingeht, um dann zum weitgehend weißen Rock und zum Bluesrock zu werden. Der Blues beeinflusst beispielsweise aber auch die Musik von George Gershwin, der in seiner Oper „Porgy and Bess“ (1935) auch Blueselemente verwendet. Darüber hinaus ist teilweise der Einfluss des Blues bis heute in vielen Stilrichtungen der populären Musik der Welt zu hören.
Einerseits kennzeichnet den Blues die Geschichte von Rassismus, Unterdrükkung und Entrechtung, andererseits ist er, speziell für die Frauen, ein Fanal der Befreiung. Als kulturelle Form entsteht für die Bluesfrauen und ihre weibliche Zuhörerschaft ein Bereich, in dem öffentlich ihre speziellen gesellschaftlichen Erfahrungen in ihrem sozialen Umfeld ausgebreitet werden können. Auf den Live-Konzerten werden die vorgetragenen Bluessongs von den Frauen aus dem Publikum kommentiert; gemeinsam mit anderen Frauen kann Selbstvergewisserung entstehen und Stärke (Empowerment) gefühlt werden.Die Blueskultur verzichtet kategorisch darauf, Personen oder Verhaltensweisen an den Rand zu drängen. Da der Blues offen dafür ist, über jedes mögliche Thema zu diskutieren, das Menschen betrifft, muss er auch die Religion nicht verbannen. Er lehnt jedoch die Art und Weise ab, wie die Religion den Blues als einen zweitklassigen Ausdruck einer minderwertigen Gruppe von Menschen definiert. Der Blues fällt keine Urteile und wertet eher nicht außer in dem Fall, wenn sich jemand individuell fragt: „Ist das gut für mich? Ist das schlecht für mich?“ Ideen, Einsichten und Themen, die von der dominanten weißen Gesellschaft mit einem Tabu belegt werden, können im Blues ohne Weiteres thematisiert werden.
Dieses Element ist äußerst wichtig und bedeutsam für die afroamerikanische Community. In ihrem Buch „Blues Legacies and Black Feminism“ beschreibt Angela Davis eine der zentralen Funktionen des Blues. Diese sei nicht nur Musik, die „eine Tonleiter mit ‚Blues Notes‘ verwendet, sondern auch, weil sie auf vielfältige Weise die sozialen und psychischen Leiden und Bestrebungen der Afroamerikaner benennt. Der Blues bewahrt und transformiert die westafrikanische philosophische Zentralität des Namensgebungsprozesses. (…) In den Traditionen der Dogon, Yoruba und anderen westafrikanischen Kulturen ist der Prozess von Nommo, die Benennung von Dingen, Kräften und Verfahrensweisen ein Mittel, um eine magische (oder im Falle des Blues ästhetische) Kontrolle über das Objekt des Prozesses der Namensgebung zu erlangen. Durch den Blues werden bedrohliche Probleme aus der isolierten individuellen Erfahrung aufgespürt und als gemeinsame Probleme der Gemeinschaft umstrukturiert.“ Den Dingen einen Namen geben bedeutet, nicht in Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit zu verharren, sondern die Gewissheit eigener Handlungsfähigkeit gegenüber einem Sachverhalt zu bekommen und herauszufinden, was in der Macht der eigenen Person oder der Community steht.
Meines Erachtens ist der Blues in der Phase des klassischen Frauenblues ein wirksames Instrument, um zur sozialen Verbindung der Frauen innerhalb der afroamerikanischen Community beizutragen. Für das afroamerikanische Frauenleben kann Bedeutsames über die Bluesmusik angesprochen werden (Live-Konzerte, Schallplatte) und Prozesse der Bewusstwerdung auslösen, die individuell zu problemlösenden Ideen und Handlungen führen können. Diese Freiheit des Benennens nehmen sich auch die Bluesfrauen heraus, indem sie das Private öffentlich machen, beziehungsweise gesellschaftspolitisch gesehen, für sich die Freiheit der Rede in der Öffentlichkeit in Anspruch nehmen, was in dieser Zeit weder für weiße noch afroamerikanische Frauen vorgesehen ist oder sogar bekämpft wird. Die Bluesfrauen schneiden eine Palette von gewichtigen Problemen an, besonders die der Frauen, die aus der sozialen Lage der afroamerikanischen Community in der rassistischen Mehrheitsgesellschaft direkt oder indirekt resultieren.
In seinem Buch „Um Blues und Groove. Afroamerikanische Musik im 20. Jahrhundert“ nimmt Manfred Miller Bezug auf die Bedeutsamkeit des Blues mit seiner optimistischen Strahlkraft für die afroamerikanische Community in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er definiert den Blues als „Ausdruck einer Kultur (…), die sich in dieser Musik allen Widrigkeiten des Lebens realistisch stellt und gleichzeitig mit dieser Musik sich die Handlungsfähigkeit bewahrt, diesen Widrigkeiten selbstbestimmt und mit Hoffnung zu begegnen.“ Carl-Ludwig Reichert führt in seinem Buch „Blues. Geschichte und Geschichten“ aus, dass der Blues „nicht zuletzt wegen seines individualistischen Ansatzes, die besten Chancen (hat; H.M.), unkorrumpiert zu bleiben. Das ist vermutlich auch der tiefere Grund, warum er uns immer wieder über alle Verständnisschranken hinweg so unmittelbar anspricht: seine Aufrichtigkeit, seine Menschlichkeit, sein Stolz und seine Würde, die allen Anfeindungen und Anfechtungen trotzt. In diesem Sinn ist der Blues eine besondere Musik für die ganze Welt, ein Ausdruck des praktizierten Widerstands gegen Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit, aber auch der schieren Lebensfreude und der Selbstbehauptung.“ Er ist das großartige Geschenk des afroamerikanischen Amerika an die ganze Menschheit.
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