Um Blues und Groove
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LESEPROBE

Aus dem Buch


UM BLUES UND GROOVE

Afroamerikanische Musik im 20. Jahrhundert

von
Manfred Miller




Aus der Einführung

Schreiben? Nun gar: Schreiben über Musik? Welch kindisches, welch arrogantes, welch aberwitziges Unterfangen.
Schreiben schon beschert genügend Mühsal? Oder vielleicht: Schreiben schon beschert Mühsal genug. Die erste Fassung wäre womöglich ihrer Klangfolge wegen vorzuziehen, wegen der Assonanz „ü – ü“. In der zweiten Version fügt der Rhythmus mit der Betonung auf der letzten Silbe der Aussage des Satzes eine zweite hinzu: Punktum, so ist es, Einspruch zwecklos. Aber was ist mit „beschert“? Beschwört es die sarkastische Abfuhr der „schönen Bescherung“ oder die freudige Erwartung weihnachtlicher Gaben? Also dritter Versuch: Schreiben schon verheißt Mühsal genug. Es gäbe wieder eine Assonanz – wenngleich eine vielleicht zu niedliche?: „ei – ei“ –, und es bliebe von der Alliteration der ersten beiden Versuche noch ausreichend stehen, dass auch den Lesenden durchs Hirn schießen könnte, was oft genug der Schreibende denkt: schöne Scheiße. Da käme dann auch die neue Assonanz zupass.
Den Worten nachhorchen, besser noch, in sie hineinhorchen wie in einen Akkord – wer etwas schreiben will, muss es tun, schon deshalb, weil er sonst womöglich etwas sagt, das er gar nicht sagen will; oder nicht sagen sollte. Mir ist das früh klargeworden, als ich begann, Nachrichten zu hören, und eine Formulierung mich stutzig machte, die mir noch heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, Bauchgrimmen verursacht: „Es droht ein Streik.“ Als sei ein Streik nicht ein Mittel des Arbeits- und Klassenkampfes, sondern eine Alle und Alles gefährdende Katastrophe wie am Meer eine Springflut, im Gebirge eine Lawine oder ein Murgang. Den Worten nachhorchen jedoch ebenso, um Vokalmelodien, Klangfolgen, Sprachrhythmen nicht dem Zufall anheimzugeben. So erwog ich soeben, beispielsweise, „eine Mure“ zu schreiben; doch schien mir das seltenere Wort „Murgang“ der Unabwendbarkeit der dadurch bezeichneten Katastrophe des Klanges wie der Rhythmik wegen treffender.
Bewussten Umgang mit der Sprache forderte in seinen „Notizen eines Philologen“ mit dem Titel Lingua Tertii Imperii Viktor Klemperer ein: „Man pflegt das Schiller-Distichon von der ‚gebildeten Sprache, die für dich dichtet und denkt’, rein ästhetisch und sozusagen harmlos aufzufassen. Aber Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewusster ich mich ihr überlasse.“
Und ein zweiter Grund sorgsamen Umgangs mit der Sprache kommt in neuerer Zeit hinzu, dem Schreibenden noch mehr Verantwortung aufbürdend: die Veränderung in der Wahrnehmung jeden Diskurses, der, sobald er sich an die Darstellung komplexer Erscheinungen macht, nunmehr Erzählung heißt. Was ich mit Wohlgefallen registriere und nicht ohne Sorge. Dass die Tragfähigkeit von Erkenntnissen des angeblichen homo sapiens auf das unserer Gattung zukommende Maß reduziert wird, halte ich für einen großen Fortschritt in den Erzählungen des Menschen über den Menschen, weil das Bewusstsein von der Vorläufigkeit aller seiner Erkenntnisse ihn wirksam gegen Fundamentalismen jedweder Art immunisieren sollte. Mit Sorge hingegen erfüllt mich, dass der neue Name Erzählung statt Vorläufigkeit Beliebigkeit signalisieren könnte und, beispielsweise, die kosmologischen „Erzählungen“ eines Stephen Hawking auf eine Stufe gestellt werden mit den prachtvollen Welt-Erzählungen aller „alten“ Stämme und Völker, als Deutungen des Universums von gleichem Rang und Erkenntniswert. Dass alle unsere sogenannten Erkenntnisse vorläufig sind und es bis zum Ende der Gattung bleiben werden, enthebt uns nicht der Anstrengung, sie Schritt für Schritt genauer zu fassen.
Alsdann: Schreiben schon verheißt Mühsal genug. Quod demonstrandum erat.
Und nun gar: Schreiben über Musik! Dass sich mir das Problem erst jetzt stellt, nachdem ich ein halbes Jahrhundert lang vorwiegend eben dies getan habe, vermag ich nur dadurch zu entschuldigen, dass ich meistens für Medien geschrieben habe, in denen ich die Musik selbst sprechen lassen konnte. Ohne diese Möglichkeit wäre ich sehr rasch an derselben unüberwindlichen Schwierigkeit gescheitert, die Jedem gegenübersteht, der einer von Geburt an blinden Person ein Bild beschreiben soll. Ärger sogar: Während eine gute Bildbeschreibung zumindest alle Sehenden in die Lage versetzt, sich selbst ein Bild vom Bild zu machen – bis hin bis zu Farbnuancen, etwa, ob ein Rot als „karmesin“ oder „pompejanisch“ qualifiziert wird –, lässt sich in vergleichbar präzisen Begriffen von Musik nur das erfassen, was auch die Notenschrift festzuhalten vermag: für eine Melodie die Verteilung der Töne in Raum (im Raum der Oktaven) und Zeit (Ganze, Halbe, Viertel etc., mit etwaigen Punktierungen oder Triolenbildungen u.ä.) bei vorweg – entweder traditionell von Largo bis Prestissimo oder digital in bpm (beats per minute) – benanntem Tempo; für Akkorde und Akkordfolgen die jeweiligen Tonschichtungen. Zum Kern aber der Musik: zum Klang: vermag Sprache nicht vorzudringen, sie kann ihn lediglich umkreisen mit Vergleichen, Metaphern, Stimmungsbildern, Verweisen auf Kunstwerke anderer Gattungen und was sich an derlei Behelfen sonst noch finden lässt.
Ein Monument dieses steten Scheiterns ist „das Schicksal“, das „an die Pforte pocht“ – oder war’s „ans Tor klopft“? Gleichviel: Die vier mächtigen, hämmernden Unisono-Schläge, mit denen Beethoven seine 7. Sinfonie eröffnet und die sich unmittelbar darauf als Bestandteile nicht einer möglichen Tonika, sondern einer Dominante offenbaren, von seinen Zeitgenossen daher sehr wohl als Dissonanzen wahrgenommen wurden, komponiert zudem in einer Zeit gewaltigen gesellschaftlichen Umbruchs (1811/12), wirk(t)en wie ein Weckruf voller Pathos und lassen sich beim besten Willen nicht in eine Sphäre des Privaten einordnen. Also: Wenn es denn schon eine irgendwie geartete Tür sein soll, dann müssen es, bittesehr, die Tore der Stadt sein, und es ist keineswegs sicher, ob es nicht die Rammböcke der anstürmenden bürgerlichen Revolution sind, die dagegendonnern.
Unter den unzähligen Selbstauskünften von Komponisten und Musikern, die hier zu zitieren wären, wähle ich nur die eine aus, die ich – wie der Zufall so spielt – vor ein paar Tagen im italienischen Programmblatt des (zugleich höchst sensiblen wie extrem expressiven, rundweg den Atem raubend riskant musizierenden) Wiener Barockquintetts Saitsiing fand: „Die Musik des Barock eignet sich die Künste der Rhetorik an und übernimmt auf diese Weise die Aufgabe der Übersetzerin: Die Gesten, die Bewegungen, die Rhythmen, die Melodien und die Emotionen der Musik transportieren genau das, was mittels des Wörterbuchs auszudrücken uns wohl nicht gelänge. (…) I vostri orecchi faranno tanto d’occhi – Eure Ohren werden ganz schön Augen machen.“
Kurzum: Was im Klang von Musik zur Sprache kommt, ist der Sprache der Worte letztlich verschlossen. Aber wie schon der Butler James in Dinner for One zum Schluss sagt: „I’ll do my very best.“ (Womit ich womöglich vor zwei, drei Jahrzehnten mich nicht gar so schwer getan hätte: Die Anzahl offener Probleme wächst mit zunehmender Einsicht.)
Seiner vorhersehbaren Vergeblichkeit wegen ist Schreiben über Musik ein kindisches Unterfangen, betrieben in trotzigem Beharren. Es enthält jedoch auch ein unschuldiges Moment von Kindlichkeit: Kinder können nicht anders, sie müssen ihre Begeisterung(en) teilen, ihre Entdeckung(en) Anderen zeigen. Es wäre zu schön, speiste sich alles Schreiben über Musik aus solchem Enthusiasmus, doch kommen ihm nur allzu oft Vermarktungsinteressen in die Quere, und der Schreiber findet sich ab mit der Rolle des Kindes im Werbespot, das begeistert Mutters Tütensuppe preist. Ob freilich Sie, die Lesenden, hier einen Werbespot oder einen Dokumentarfilm vor sich haben, können nur Sie selbst feststellen.
Wie ebenso nur Sie feststellen können, ob das, was zu lesen Sie sich anschicken, Ergebnis eines arroganten Unterfangens ist (weil der kindliche Enthusiasmus des Zeigen-Wollens in fortgeschrittenem Alter nur allzu leicht als Besserwisserei daherkommt), oder doch, trotz unvermeidlicher Unzulänglichkeiten und womöglich vermeidbarer blinder Flecken, Resultat eines hilfreichen. Denn der Satz, den gute Ciceroni mit einigem Recht für ihre Dienste reklamieren: „Man sieht nur, was man weiß“, gilt (wo wir denn schon dabei sind: „cum grano salis“) auch für die Musik: „Man hört nur, was man weiß“.
Fragt sich allerdings: Was kann man über die afro-amerikanische und die von ihr inspirierte Musik des 20. Jahrhunderts wissen? Die Quellenlage scheint besser zu sein denn je: Bis auf die Wachszylinder, die irgendwann zu Beginn jenes Jahrhunderts der Legende nach Buddy Bolden bespielt haben soll (und die, wie alle legendären Artefakte, niemals gefunden wurden: der Gral des Jazz!), ist mittlerweile fast alles zugänglich, was jemals auf Tondokumenten festgehalten worden ist, selbst von den jahrzehntelang nicht minder legendären Benedetti Tapes gibt es mittlerweile eine kommerzielle Überspielung. Dean – Dino Alipio – Benedetti, ein (Tenor-, später Alt-) Saxophonist, war von Charles Parker dermaßen fasziniert, dass er von März 1947 bis Juli 1948, bevor seine letztlich tödliche Erkrankung an Muskelschwund es ihm unmöglich machte, zu dessen Auftritten stets ein Aufnahmegerät mitbrachte, dabei allerdings, um Material zu sparen, einzig die Soli des Altsaxophonisten aufzeichnete. (Veröffentlicht von Mosaic Records.)
Wer jetzt eine Geschichte der afro-amerikanischen Musik erarbeiten will, steht – im Gegensatz zu früheren Geschichtsschreibern, deren Quellenkenntnis vom verfügbaren Material begrenzt wurde – vor einem schier unüberschaubaren Materialgebirge, das vollkommen zu vermessen diesmal von der begrenzten Lebenszeit her unmöglich ist; er kann nur hoffen, dass die Route, die er für den Aufstieg wählt, ihn über die richtigen – die wichtigen – Punkte führt.
Zudem muss, wer als Musikhistoriker diese Quellen nutzt, von vornherein darüber sich klar sein, dass der allergrößte Teil der Musik, mit der er sich befasst, nur ein einziges Mal gesungen und/oder gespielt wurde und wird, von niemandem aufgezeichnet, nirgendwo festgehalten. Wieweit die tagtägliche (oder nachtnächtliche) musikalische Praxis im Aufnahmestudio reproduziert oder den veränderten Bedingungen angepasst wurde, bleibt eine offene Frage. Wie hat sich die zeitliche Begrenzung der 78er-Schellackplatten auf die Arrangements ausgewirkt? Wurden sie womöglich komprimiert? Sicher ist eigentlich nur, dass die Bands in den taxi dance halls die Schellack-Obergrenze knapp über drei Minuten selten oder nie voll ausgespielt haben, schließlich mussten dort die Tänzer ihren Obulus an den Betreiber für jedes einzelne Tanzstück entrichten. Der umgekehrte Vorgang – dass im Studio längere Stücke verdichtet wurden – mag einleuchtend erscheinen, nur ist er nirgendwo dokumentiert. So wie nirgends dokumentiert ist, wie in der Zeit vor der Erfindung und Einführung des Kondensatormikrophons die Schlagzeuger wirklich – also außerhalb eines Aufnahmestudios – gespielt haben. Vor den alten Aufnahmetrichtern konnten sie bestenfalls mit einem sehr reduzierten Instrumentarium agieren, der Schalldruck von Basstrommel oder Tom Toms, wohl auch der einer hart angeschlagenen Snare hätte die aufzeichnende Nadel aus der wächsernen Matrize springen lassen, und aus einem mir nicht bekannten Grund scheint auch das Arsenal der Becken weitgehend tabu gewesen zu sein, vielleicht, weil deren Schwingungen die oberen Frequenzen der anderen Instrumente zu sehr überdeckt hätten; weshalb Warren „Baby“ Dodds bei den epochalen Aufnahmen von King Oliver’s Creole Jazz Band fast ausschließlich die öden Woodblocks bearbeitet. Bleibt daher eine weitere offene Frage, ob die relativ häufigen Bands ohne Schlagzeug in der Zeit des sogenannten „klassischen Jazz“ tatsächlich musikalischer Praxis entsprachen oder ein Erfindung fürs Studio waren – ganz abgesehen davon, dass die weitaus bekannteste dieser Bands, die Hot Five des Louis Armstrong, eben dies gewesen ist: eine Besetzung fürs Plattenstudio, rundum...

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